Philosophy is the translation of Eros into Logos. - B.C. Han
In diesem Essay möchte ich als blosser Enthusiast und Laie der Philosophie den Versuch wagen, mich einem Grundmotiv menschlicher Existenz anzunehmen. Es gibt keinen Menschen, welcher nicht etwas zur Liebe sagen könnte und die Antworten sind wohl so mannigfaltig wie der Sternenhimmel selbst. Lasst uns einen Blick in die altgriechische Sprache werfen, die das Wort in drei weitere Begriffe aufschlüsselt und durch diese Differenzierung Konkretheit schafft: Eros, Philia und Agape.
Eros ist die Griechische Gottheit der Liebe und steht für die leidenschaftliche, sinnliche Begierde. Im Kontext von Liebe bezieht sich Eros auf die Romantik und auf das Abwesende, nach dem Sehnsucht entsteht.
Philia bedeutet Freundschaft oder kameradschaftliche Liebe. Es ist die Platonische Liebe, die auf gegenseitigem Respekt, Vertrauen und gemeinsamen Interesse beruht. Für Aristoteles galt Philia «als die glücklichste und menschenwürdigste aller Liebesarten, die Krone des Lebens und die Schule der Tugend».
Agape ist die bedingungslose, allumfängliche Liebe oder auch «Nächstenliebe». Die Liebe hierbei ist altruistisch und kann sich bis hin zur göttlichen Liebe ausweiten. Wenn Gandhi von «Auge um Auge und die ganze Welt wird blind sein» sprach, wirkt im «Hinhalten der anderen Wange» unmittelbar die Kraft Agapes. Dies soll vorerst als Orientierung über Philia und Agape genügen, der weitere Fokus wird nun auf Eros gelegt, da es laut Philosophen wie Byung-Chul Han, Slavoj Žižek oder Herbert Marcuse, das grösste Konflikt- und Krisenpotential in der modernen Gesellschaft beherbergt.
Te quiero
Es gibt wohl keine Sprache, die mit der Offenbarung von Eros so ehrlich umgeht wie Spanisch. Ein Freund von mir meinte einst, er könne das «Ich liebe dich» in Beziehungen nicht erwidern, da er gar nicht wisse, was hinter dem Gesagten steht. Dies soll nochmals unterstreichen, dass Liebe eben sehr abstrakt sein kann, wenn man es nicht weiter auffächert. «Ich liebe dich» hängt ganz von der absendenden Person ab, es kann alles und nichts heissen. «Ich will dich» ist viel klarer und dabei kommt zugleich die ganze menschliche Tragödie, die grösste Quelle für Kunst und Literatur, zu tragen. Denn egal wie umschlungen oder verschmolzen, nie ist es nahe genug und am Ende tritt Desillusion ein. Man bleibt unvollkommenes (?) Fragment, getrennt in seinem physischen Körper. «Te quiero» schmerzt, weil es nicht zu erreichen ist und so soll es auch sein, denn Besitz hat mit Liebe wohl sehr wenig am Hut. In einem kleinen Gedichtband der «Schönsten Deutschen Liebesgedichte» von Walther von der Vogelweide bis Gottfried Keller, das ich gelegentlich in meiner Hosentasche mit mir trage, ist bei «Ich und Du» von Friedrich Hebbel folgendes zu lesen:
Wir träumten voneinander
Und sind davon erwacht,
Wir leben, um uns zu lieben,
Und sinken zurück in die Nacht.
Du tratst aus meinem Traume,
Aus deinem trat ich hervor,
Wir sterben, wenn sich eines
Im andern ganz verlor.
Auf einer Lilie zittern
Zwei Tropfen, rein und rund,
Zerfliessen in eins und rollen
Hinab in des Kelches Grund.
Die erste Zeile kann als den Zustand des Verliebtseins gelesen werden, in welchem – möchte man mit C.G. Jung sprechen – unsere innewohnende Ur-Bilder von Anima und Animus nach aussen projiziert werden und dabei unvermeidbar eine Idealisierung eines Menschen stattfindet. Das Erwachen in Zeile zwei, bedeutet die Sublimation in eine reifere Verfassung; der des Liebens. Als mir meine erste Freundin mitteilte, sie sei nicht mehr verliebt in mich, brach eine Welt für mich zusammen, ohne damals über den Unterschied dieser beiden Prozesse im Klaren zu sein. Schon oft habe ich den Satz gehört: «Ich verliebe mich jeden Tag aufs Neue in meine/n Partner:in». Vorerst ist es fragwürdig, ob dies nicht nur Farce ist und zweitens, ob es denn erstrebenswert sei. Denn wie es im Englischen (to fall in love) richtig heisst, ist es auch immer mit Schmerz und Ungewissheit verbunden.
«Wir leben, um uns zu lieben» darf nicht im Sinne eines «égoïsme à deux» verstanden, sondern muss dringendst universell aufgegriffen werden. Der aus der Epoche des Poetischen Realismus stammende Friedrich Hebbel meinte wohl im Gedicht dennoch ein Paar, das im nächsten Schritt zurück in die Nacht sinkt. Darauf folgt eine weitere Beschreibung des Hervortretens aus einem Traum, dessen Interpretation ich bereits zuvor gewagt habe und dann folgt der wichtigste Teil; der Höhepunkt und Tragödie. Die Annahme lautet: Das Paar sterbe, wenn sich jemand im andern verliere. Wenn zwei individuelle Tropfen zu einem werden und dieser hinab in des Kelches Grund kullert. Wird die Freiheit des Individuums in einer Beziehung nicht bewahrt, stirbt das Individuelle wie auch die Beziehung früher oder später. Möchte uns Hebbel mit diesem Gedicht mitteilen, dass Liebe und Freiheit einer Antinomie gleich sind, einem unauflösbaren Widerspruch? Es bedarf weiteren Betrachtungen, um dieser Frage auf den Grund zu gehen.
Libido lebt durch die Illusion
Slavoj Žižek meint in seinem Film „Pervert’s Guide to Cinema“, dass unsere Libido eine Illusion brauche, um überhaupt bestehen zu können. Die Faszination für das Schöne sei immer ein Ventil, das einen Albtraum überdeckt. Der ultimative Abgrund ist dabei kein physischer, sondern der Abgrund in der Tiefe eines anderen Menschen, noch tiefer als des Kelches Grund. Es scheint mir wichtig zu erwähnen, dass diese Vorstellungen von einem Menschen kommen, der im Anblick eines Gegenübers in dessen Augen nicht die Fülle einer Seelenlandschaft sieht, sondern eben glaubt, dahinter verbärge sich rein gar nichts. Wer auch immer nun recht haben mag, mit beiden Auffassungen wird das transzendente Wesen eines Menschen hervorgehoben. Wir wissen nicht, was sich hinter der Maske befindet, können aber durch Sprache oder eben durch körperliche Sinnlichkeit, Bruchstücke davon erkennen. In der Liebe begegnet man laut Žižek dem Abgrund – oder etwas positiver ausgedrückt – der Tiefe eines Gegenübers.
Die Gefährdung von Eros
Laut dem Philosophen Byung-Chul Han steht Eros derzeit in einer Krise und droht laut dem Buchtitel «Agonie des Eros» gar zu verenden. Kommen wir zurück auf das Gedicht von Hebbel, denn Han beschreibt die Liebe gleichermassen dramatisch. Er meint, man stirbt im Andern und die Rückkehr zum Ich, bildet das Geschenk des Anderen. Ich sehe dabei bereits eine wunderbare, versöhnliche Synthese. Ja, man stirbt, man verliert kurzzeitig seine Individualität, aber das Zurückkommen zu sich selbst ist ein Geschenk der geliebten Person. In der modernen Gesellschaft gäbe es nun aber eine Erosion des Anderen, die zu einem Verlust des Eros führe. Die Gefahr davon bestehe in einem narzisstischen Positivismus, der die Grenze zwischen Ich und dem Gegenüber nicht mehr differenzieren könne, so Han. Dies erinnert auch stark an spirituelle Ideen, die besagen, im Angesicht eines anderen Menschen herrscht nicht Ich und Du, sondern Ich und Ich. Alles sei demnach ein Spiegel meiner Selbst. Han weiter: «Heute wird die Liebe zu einer Genussformel positiviert. Die Liebe soll vor allem angenehme Gefühle erzeugen. Sie steht nicht mehr für Handlung, Erzählung oder Drama, sondern nur noch für inkonsequente Emotionen und Erregung. Sie ist frei von der Negativität der Verletzung, des Angriffs oder des Absturzes. Sich zu verlieben wäre schon zu negativ. Und doch ist es gerade diese Negativität, die die Liebe ausmacht.»
Liebe als glorreiche Tat
Bei der Verfilmung von Jane Austens «Sense and Sensibility» (1995) gibt es eine wundervolle Stelle, welche die heroische Tat – man muss hierbei ganz klar von der Entscheidung und nicht einem Zustand sprechen – eines liebenden Menschen im Gespräch zweier Frauen darlegt:
Marianne: Can the soul really be satisfied with such polite affections? To love is to burn - to be on fire, like Juliet or Guinevere or Eloise.
Mrs. Dashwood: They made rather pathetic ends, dear.
Marianne: Pathetic? To die for love? How can you say so? What could be more glorious?
Die auf dem Vormarsch stehende Kultur des Wohlbefindens oder auch «die Spassgesellschaft» möchte nun anscheinend diese Unannehmlichkeiten und das potenzielle Leid verhindern, büsst dafür aber stets Lebensintensität ein und findet sich letztlich bei Nietzsches «Letztem Menschen» wieder, bei den auf den fliegenden Sesseln sitzenden Personen im Film «WALL·E» mit einem Bildschirm dauernd vor den Augen. Würde es sich dabei nicht um einen Kinder-Animationsfilm handeln, würde man hoffentlich und ehrlichkeitshalber zeigen, dass die Menschen einander nicht mehr lieben, sondern als verkommene Voyeure nur noch kurze Momente der Lust mit Hilfe von Pornografie empfinden.
Der Fall in den eigenen Abgrund
Pornografie ist laut Byung-Chul Han ein grosser Treiber der Ausmerzung von Eros. Beim Konsumieren von pornographischen Inhalten hat man keinen Gegenpol, sodass es den eigenen Narzissmus weiter verstärkt und die betroffene Person in seinen eigenen Abgrund fällt. Nicht nur das, es verrückt auch das Bild von Sexualität, das viel mehr akrobatisch als zärtlich gezeigt wird. «Die Sexualität löst sich auf in die weibliche Performance der Lust und die männliche Leistungsschau. Die ausgestellte, zur Schau gestellte Lust ist keine. Der Ausstellungszwang führt zur Entfremdung des Körpers selbst», so Han. Erotik lebt eben genau nicht von der absoluten Exponierung von Körpern, sondern vom Subtilen und von der Fantasie. Gerne möchte ich dafür Beispiele aus der Literatur und aus dem Kino herbeiziehen, um diesen Gedanken zu unterstreichen.
Beim nachfolgenden Abschnitt von Stefan Zweigs «Phantastische Nacht» können wir uns daran erinnern, dass Žižek von der Illusion sprach, die es benötigt, um die Libido aufrecht zu erhalten. Der Protagonist befindet sich zu Beginn der Geschichte in einer Krise der Abgestumpftheit und begibt sich darum auf die Suche nach der Wiedererlangung von Leidenschaft. Als er ergriffen von einem Lachen eines Menschen war, ging in ihm folgendes vor: «Ich wollte die Lachende noch nicht ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust meine Phantasie mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein Gesicht, einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze lebendige atmende Frau um dieses Lachen zu legen.» Es ist der Prozess, den eine Kollegin treffend als «estirar el chicle» bezeichnet, also den Kaugummi der Lust und der Imagination bis zum Maximum auszudehnen.
Im Bereich des Filmes gibt es für mich keinen anderen zeitgenössischen Regisseur, der die Kraft der Erotik derart passend auf die Leinwand bringt als der Italiener Luca Guadagnino. In seinem Meisterwerk «Call Me By Your Name» werden die Liebesszenen zweier Männer jeweils nur zu Beginn ansatzweise gezeigt, danach gleitet die Kamera zum Beispiel in den sommernächtlichen Himmel. Also gerade das Gegenteil von pornographischen Inhalten oder popkulturellen Filmen wie «Fifty Shades of Grey». Erst durch die Wissens- oder Sehlücke in der Kunst werden die Betrachtenden ins Werk integriert und machen ähnliche Prozesse der Vorstellungskraft mit, welche die Künstler:innen beim Erschaffen erlebten. Eros lebt genauso wie die Philosophie von der Liebe der Abwesenheit, dem Bedürfnis, das Unbekannte zu erreichen.
Wer glaubt in Obszönitäten und sexueller Zurschaustellung eine enttabuisierende Kraft zu sehen, geht laut Wolfgang M. Schmitt auf dem Holzweg. Dieser bezieht sich auf den italienischen Autoren und Regisseuren Pier Paolo Pasolini, der in sexuellen Grenzüberschreitungen in der Kunst die bereits vollbrachte Einverleibung in die Konsumgesellschaft sieht. Ein Tabubruch sei demnach gar nicht mehr möglich, da Sex bereits zu einem einzigen Geschäft geworden ist.
Eros anders gedacht
Beim Sprechen über Eros darf der Fokus nicht nur auf der Sexualität bleiben. So die Prämisse von Herbert Marcuse, dessen Gedanken ich gerne zum Schluss herbeiziehen möchte. Marcuse schreibt zu Beginn seines Buches «Der eindimensionale Mensch», dass die instinktive Befriedigung im materialistischen System, diesem dazu verhilft, sich selbst zu erhalten. Überall möchte uns der Kapitalismus vermitteln, welch Wohlfühloase und welch Möglichkeiten er uns zu bieten hat. Das mag für einige Menschen zutreffen, wirklich frei sind die Opfer des Konsums jedoch so wenig wie die Ausgebeuteten. Und darum stellt sich die Revolte als kollektive Pflicht heraus. Nach Albert Camus bedeutet dies nicht politische Revolution, sondern eine individuelle Haltung gegen die Ungerechtigkeit und gegen die materielle Absurdität dieser Welt. Herbert Marcuse liefert eine äusserst spannende Möglichkeit zur Erklärung der Abwesenheit von politischer Widerstandskraft, in dem er sich auf Eros bezieht. Eros versteht er dabei als Lebensinstinkt, als eine Art schöpferischen Antrieb. Die Konsequenz vom ausschliesslichen Fokus von Eros auf den Genitalbereich hebt auf geniale Weise hervor: «Die Konzentration der erotischen Energie in der genitalen Sinnlichkeit verhindert die Transzendenz des Eros in andere Zonen des Körpers und in seine Umwelt, verhindert seine revolutionäre und kreative Kraft. Der sexuelle Akt ist keine Schöpfung, sondern eine Erfüllung und Wiederholung. Er kann sowohl die Bedürfnisse des Einzelnen als auch die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen, indem er die Individuen durch emotionale Bindungen zusammenhält und eine Einheit der Familie, des Stammes, der Gemeinschaft bildet. Aber er bleibt innerhalb der Schranken, die seine animalische Natur ihm auferlegt. Der Eros, der die individuellen und sozialen Fesseln sprengen könnte, ist erstickt.»
Dies bietet eine Einladung, Eros als Lebensantrieb zu verstehen, dessen Kraft sich in jede Zelle unseres Körpers ausweiten kann, um künstlerisch und politisch tätig zu sein. Es heisst nicht umsonst auch in den tantrischen Schriften, dass wer es vermag die libidinöse Energie in höhere Chakren zu leiten, nie zuvor gekannte, himmlische Zustände erfährt. Hoch soll leben Eros. Auf zum 1. Mai.
Referenzen und Empfehlungen
Byung-Chul Han - Müdigkeitsgesellschaft
Byung-Chul Han - Agonie des Eros
Emilia Roig - Das Ende der Ehe
Friedrich Hebbel - Ich und Du
Friedrich Nietzsche - Also sprach Zarathustra
Herbert Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Herbert Marcuse - Eros und Zivilisation
Jane Austen - Sense and Sensibility
Luca Guadagnino - Call Me by Your Name
Luca Guadagnino - Bones and All
Luca Guadagnino - Challengers
Slavoj Zisek - Pervert’s Guide to Cinema
Stefan Zweig - Phantastische Nacht
Wolfgang M. Schmitt - Die Filmanalyse
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