Tag 1
Am Sonntag, 28. Februar 2021, startete ich meine Reise ins Ungewisse Richtung Frankreich. Wobei das nur halb stimmt, denn im Jahr 2017 machte ich bereits einmal eine 800 kilometerlange Velotour in der Projektwoche mit der Kantonsschule Wohlen. Damals war das Endziel Saint-Raphael und die Etappen führten über viele anstrengende Pässe. Das wollte ich mir auf dieser Tour nicht antun, denn dieses Mal fuhr kein LKW mit, der das ganze Gepäck für mich transportiert. Also wählte ich eine Route,
welche die Pässe möglichst umfuhr. Bis nach Biel war mir jedoch noch vieles im Gedächtnis und die Umgebung fühlte sich sehr vertraut an. Das Wetter hätte auch nicht besser sein können für den Start dieser Velotour. Ohne Probleme machte ich Kilometer um Kilometer an diesem Tag. Als ich einmal auf einem schmalen Weg direkt neben der Aare fuhr, liefen vier Menschen vor mir, so dass ich sie nicht überholen konnte. Ich sagte folgendes, als sie mich bemerkten und zur Seite gingen: ‘’Sorry, ich habe keine Klingel, um euch vorzuwarnen, ich wollte euch nicht erschrecken.’’ Ein Mann aus der Gruppe antwortete mit sympathischem Berner Dialekt: ‘’Macht nüt, muesch nume gäng ächli singe.’’ Und ja er hatte Recht, vielleicht sollten wir Menschen wirklich öfters singen, das Leben feiern, fröhlich sein. Nach etwa 100 Kilometern kam ich dann in meiner Unterkunft in Nidau am Bielersee an und die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden.
Tag 2
Am nächsten Tag hatte ich starke Schmerzen im linken Knie, so dass ich zuerst in eine Apotheke fahren musste um eine Kniestütze und eine Salbe zu kaufen. In solchen Momenten bin ich sehr dankbar für unser gesamtes Gesundheitswesen, doch oft frage ich mich, wenn ich in einer Apotheke stehe: Brauchen wir das wirklich alles? Wäre es nicht viel besser uns wieder mit der Natur zu verbinden, uns gesund zu ernähren und den Wald, die Natur als wahre Apotheke zu erkennen, anstatt vor allem Symptombekämpfung zu betreiben? Während dem Fahrradfahren entdeckte ich ein Hörbuch namens ‘’Der Biophilia-Effekt’’, worin wissenschaftliche Beweise geliefert werden, dass der Wald ein enormes Potenzial für physische und psychische Heilung hat. Wusstet ihr zum Beispiel, dass nach einem ca. eintägigen Waldaufenthalt, sich unsere natürlichen Killerzellen im Blut um 40% erhöhen? Oder, dass wir die ausgesendeten Botenstoffe der Bäume, die sogenannten Terpene in uns aufnehmen können und dass diese antikrebsbakteriell in unserem Körper wirken? Mit diesem Wissen nahm ich noch tiefere Atemzüge auf meiner Reise, sobald ich von Bäumen umgeben war. Den Link zum Hörbuch findet ihr hier: https://youtu.be/7q0S65PH-8o
Nach meinem Abstecher in die Apotheke ging es dann 90 Kilometer am Bielersee und danach am Neuenburgersee entlang. Das war sicher eine der schönsten Etappen überhaupt. Die Weinberge zur Rechten, glitzernde Seen zur Linken und ich mit meinem Velo mitten durch kleine, idyllische Ortschaften mit wunderbarer Architektur.
Am Abend erwartete mich im Keller der Unterkunft in Ballaigues dann noch eine Sauna mit Whirlpool, was perfekt zu meiner Regeneration beigetragen hat.
Tag 3
Um 10 Uhr fuhr ich an diesem Tag los Richtung Genf und hatte es dann zum ersten Mal mit Auf- und Abstiegen zu tun. Jedes Mal, wenn ich es einfach wieder sausen lassen konnte, wusste ich aber warum es sich lohnt, sich den Berg hinauf zu kämpfen. Warum es sich lohnt, in den harten Zeiten des Lebens weiter zu machen, auch wenn man nicht genau weiss, was nach dem Hügel kommen wird. Immer wieder wurde ich nach anstrengenden Passagen belohnt.
Im kleinen Städtchen in Romainmotier war die Belohnung dann eine etwa 1000 Jahre alte Kirche. Dies war ohne Zweifel ein sehr spezieller, magischer Ort, der mich sehr in die Gegenwart brachte. Über Religionen kann man sich natürlich streiten und auch ich sehe diese Konzepte kritisch, doch trotz der ganzen Probleme, wie zum Beispiel die starke Dogmatik/ Apologetik, haben Religionen in ihrem Kern doch eine gewisse Wahrheit, die sich auf unser heutiges Leben adaptieren lässt und zudem brachten die Religionen eben auch solch wunderschöne Bauten und Paläste hervor. Das waren Dinge, die mir an diesem Ort durch den Kopf gingen. Als ich ein Stück von der Kirche wegfuhr, sah ich eine Beerdigung in einem Garten. Natürlich ist eine Beerdigung an sich noch kein Grund, um darüber zu berichten, denn der Tod gehört nun mal zu unserem Leben dazu. Doch das Spezielle an dieser Beerdigung war, dass sich die Angehörigen nicht schwarz kleideten, sondern farbig und schon fast festlich. Die Stimmung war nicht traurig und ich glaube nicht, dass es daran lag, dass sie den Menschen, der gestorben war nicht gerne hatten. Es wirkte eher so als hätten diese Leute die Vergänglichkeit des Lebens akzeptiert und sie weinten zwar, aber mehr aus Freude für all die schönen Momente, die sie gemeinsam mit der verstorbenen Person erlebt haben. So stelle ich mir meine Beerdigung auch vor. Ich möchte, dass getanzt und gelacht wird. Es geht nicht darum was geht, sondern darum was für immer bleibt und das sind die Augenblicke.
Nach der Besichtigung der Kirche, gab es dann einige sehr angenehme Abfahrten bis ich schliesslich am Genfersee ankam und dort noch den botanischen Garten besuchte. Ich war sehr fasziniert von dieser Idee. Solche Oasen sollten viel öfters in die Stadtplanung einbezogen werden, denn sie geben den Menschen einen ruhigen Rückzugsort in ihrem stressigen Alltag. Ausserdem wurde erwiesen, dass sich ein Aufenthalt im Grünen positiv auf unsere Konzentration auswirkt, was an jedem Arbeitsort und an jeder Schule sehr hilfreich sein kann. Ich sah im Botanischen Garten auch einige Schulklassen, die zum Beispiel den Auftrag hatten, die Tiere genau zu studieren und sie abzuzeichnen. So stelle ich mir die Schule 'von morgen' vor: naturbezogenes und praktisches Lernen.
Genfersee und der Botanische Garten mitten in der Stadt
Am Abend erreichte ich dann Viry, was schon zu Frankreich gehört und spätestens ab diesem Zeitpunkt bereute ich es, dass ich im Französisch früher nicht besser aufgepasst habe.
Tag 4
Am nächsten Morgen machte mir dann wieder mein Knie sehr zu schaffen und ich musste ziemlich auf die Zähne beissen. Schlussendlich hat das Sitzverstellen dann am meisten geholfen. Manchmal lösen sich Probleme wirklich am besten, indem man nicht zu viel denkt und einfach intuitiv handelt. Die Intuition war es auch, die mich überhaupt auf diese Reise gebracht hat. Ich hatte einen inneren Drang in mir, wegzugehen und meine Komfortzone zu verlassen. Angesichts der aktuellen Lage erschien es mir am schlausten mit dem Velo zu reisen. Nicht nur auf die Corona Krise bezogen, sondern auch auf die Klimakrise. Mit dem Velo lassen sich so viele schöne Orte problemlos erreichen und zudem tut man etwas für die eigene Gesundheit. Ich realisierte, dass ich alles viel bewusster wahrnahm, besonders die Übergänge der verschiedenen Ortschaften, die genau so geschmeidig verlaufen, wie der Wechsel der Jahreszeiten. Die bewusste Wahrnehmung der Umgebung schliesse ich darauf zurück, dass man auf dem Velo alle Sinne gebraucht und die unmittelbare Umgebung dadurch voll und ganz wahrnehmen kann. Was in den von der Umwelt abgeschirmten Fortbewegungsmitteln wie dem Flugzeug oder dem Auto nicht der Fall ist. Während dem Fahrradfahren bewegt man sich sehr ähnlich zum Puls der Natur mit, was die Zeiger der Uhr irgendwie anders drehen lassen. Fahrradfahren erdet und das langsame Fortbewegen hat auch zur Folge, dass die Gedanken langsamer fliessen und der Verstand klarer wird. Und mit dem Ziel, dem Mittelmeer vor Augen, vergass ich auf dieser Etappe sogar ein wenig, dass mein Knie schmerzte und schon war ich in Chambery angekommen.
Tag 5
Auf dieser Velotour erlebte ich es, was es heisst am Morgen motiviert aufzustehen. Fast nie musste ich mich aus dem Bett zwängen, wie es zu meiner Schulzeit oft der Fall war. Ein genaues Ziel vor Augen kann einem sehr viel Energie und vor allem Sinn geben. An diesem Tag hiess mein Etappenziel La Garde, Bren. Am Morgen hatte ich noch keine Ahnung davon, dass es die mit Abstand mühsamste und anstrengendste Etappe von allen wird. Ich kam an diesem Tag definitiv an meine Grenzen und hatte teilweise auch gar keine Lust mehr weiterzufahren. Obwohl die mich umgebende Natur wunderbar war, kam ich einfach nicht voran. Bei jedem Tritt schmerzte das Knie und ich begann ab einem Punkt an zu schreien, was mir irgendwie zusätzliche Energie gab. In solchen Momenten passiert es oft, dass man die Fehler im Aussen sucht. Bei mir waren dann zum Beispiel die vorbeifahrenden Autos Schuld, dass es mir so schlecht ging oder das Wetter oder was auch immer. Irgendwann dachte ich mir dann: ‘’Halt, ich alleine bin verantwortlich für meine aktuelle Lage und niemand anderes. Ich habe es mir ausgesucht diese Reise zu machen, also muss ich jetzt auch mit den negativen Seiten davon leben.’’ Diese Erkenntnis löste einen gewissen Knoten und ich kam danach wieder besser voran. Was ich definitiv gelernt habe auf dieser Etappe: Suche niemals die Probleme im Aussen und sei nicht wütend oder traurig, dass dir etwas Schlechtes passiert, sondern frage dich stattdessen: Was möchte mich das Universum in diesem Moment wohl lehren? Das Leben geschieht nie gegen uns, sondern immer für uns, doch die Erkenntnis geschieht meistens danach. Nach dem ich mich dann zu Fuss noch den letzten Hügel hinaufgekämpft habe, da es keinen befahrbaren Weg gab zu der Unterkunft ‘’La studio au Coeur de la Nature’’, war ich fix und fertig und freute mich nur noch auf das weiche Bett. Am Abend beschloss ich den nächsten Tag einmal Pause zu machen, damit sich mein Knie erholen kann. Dieser Ort eignete sich perfekt dafür, denn er lag, wie es der Name der Unterkunft schon sagt, mitten in der Natur.
Au coeur de la nature
Tag 6
Mit einer Meditation, einer Tasse Kaffee und dem Buch ‘’Narziss und Goldmund’’ von Hermann Hesse startete ich meinen Tag. Es fühlte sich richtig an, ein bisschen zu verweilen und so richtig einzutauchen in die Landschaften Frankreichs. Da das Wetter sehr windig und kalt war, verbrachte ich die meiste Zeit jedoch drinnen mit Lesen, während ich mein Knie gegen einen Heizkörper hielt, um die Genesung voranzutreiben. Zusätzlich machte ich mir immer wieder einen Wickel aus Weisskohl, was mir mein Gotti als Tipp gegeben hatte.
Irgendwann zog es mich dann doch noch raus und ich machte einen kleinen Spaziergang durch den Wald mit intensiven Atemübungen, was ich mir irgendwie angewöhnt habe, sobald ich in einem Wald bin. Auf dem Spaziergang sah ich meinen ersten Löwenzahn in diesem Jahr. Irgendwie leuchtete dieser so fest, dass ich es als Zeichen deutete und ihn ass. Bald kann man übrigens wieder gesunde und kostenfreie Löwenzahnsuppen machen. An diesem Tag kam dann auch der Moment als ich mich zum ersten Mal auf dieser Reise einsam fühlte und meine Freunde und Familie vermisste. Doch ich wusste zum Beginn meiner Reise, dass es solche Momente geben wird und ich die Einsamkeit gewissermassen auch suchte. Innere Heilung geschieht meistens dann, wenn man in die Leere eintaucht und seinen Gedanken und Gefühlen nicht mehr ausweichen kann, sondern ihnen zuhören muss.
Tag 7
Bevor die Reise weitergehen konnte, stellte ich fest, dass ein Reifen gewechselt werden muss. Trotz Youtube Tutorial hatte ich ca. zwei Stunden dafür. Danach merkte ich beim Fahren relativ schnell, dass mein Knie immer noch schmerzte. Wieder schraubte ich ein wenig an der Sitzhöhe rum und fand eine Position, in welcher es erträglich war, um bis nach Saint-Gervais-sur-Roubion zu fahren. Auch dort fand ich mich in einer Unterkunft mitten in der Natur wieder und verstand mich mit der Gastgeber Familie gleich auf Anhieb. Sie waren sehr geduldig mit meinem Französisch und besonders mit den kleinen Kindern machte es Spass, die Sprache zu üben. Ein Phänomen, dass mir auch in meinem Zivildiensteinsatz immer wieder aufgefallen war: Bei Kindern kann man genauso sein wie man ist und man wird für praktisch nichts verurteilt. Adrien, der 28-Jährige Sohn des Gastgebers, zeigte mir das Haus und als er mir sagte, dass er und sein Vater so gut wie alles am Haus selber gebaut haben, konnte ich es kaum fassen. Das erklärte aber dann auch die unglaubliche Atmosphäre an diesem Ort. Die Menschen lebten nicht in diesem Haus, sie waren das Haus. Die Liebe, welche in das Gebäude gesteckt wurde konnte man förmlich spüren. ‘’Ich gehöre hier hin’’, dachte ich mir. Und als mir dann Adrien noch erzählte, dass er sich auch sehr für Permakultur begeistert, gab es für mich keine Zweifel mehr, dass dies garantiert der richtige Ort ist für mich. Am liebsten wäre ich länger als nur eine Nacht geblieben. Dieses Erlebnis zeigte mir auf meinem nomadischen Trip, die Verlockung irgendwann zusammen mit den Menschen, die man liebt sesshaft zu werden und sich ein kleines Paradies zu erschaffen.
Tag 8
Mit einem weinenden und einem lächelnden Auge verliess ich am Morgen die Unterkunft. Das Meer war zu diesem Zeitpunkt nur noch etwa 150 Kilometer entfernt. Schliesslich kam es dann aber doch so, dass ich ein Stück mit dem Zug weiterreisen muss. Dies hatte den Vorteil, dass ich mir in Avignon Zeit nehmen konnte, diese wunderbare Stadt so richtig zu geniessen. Im Jahr 2000 wurde Avignon zur Kulturhauptstadt Europas ernannt. Der Palast der Päpste ist sehr beeindruckend anzusehen und ohne Corona muss dieser Ort ein Traum sein für kunst- und kulturinteressierte Menschen.
Nach Avignon fuhr ich weiter bis nach Arles zu meiner Unterkunft. Mein Zimmer befand sich mitten in einer Bibliothek eines Französisch Lehrers. Auch in dieser Situation bereute ich es ein wenig, die Chance, gratis französisch zu lernen in der Schule, nicht ernst genommen zu haben. Denn er hatte alles: Bücher von Rousseau, Albert Camus, Voltaire, Jean-Paul Sartre usw. Das Gefühl von so viel wertvollem Wissen umgeben zu sein, liess mich in dieser Nacht besonders gut schlafen.
Tag 9
Von Arles bis nach Saintes-Maries-de-la-Mer waren es nur noch etwa 40 Kilometer und ich konnte die letzte Etappe in vollen Zügen geniessen. Steigungen gab es keine mehr, nur noch gerade Strassen, umgeben von riesigen Weiden und Ackerflächen. Während einem gewissen Streckenabschnitt konnte ich nicht mehr aufhören zu lachen. Ich lachte laut heraus und liess mich komplett gehen. Die Gefühle, welche ich dabei verspürte, sind schwierig zu beschreiben. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal ohne Stützräder eine Strasse entlang fährt. An diesem Tag meinte man es wirklich gut mit mir, denn ich hatte die ganze Zeit auch noch Rückenwind und fuhr zeitweise fast 45 Km/h. Dann bekam ich riesige Schafherden zu sehen, tausende weisse Camargue Pferde und auch noch ein paar Flamingos, die einen unfassbar eleganten Flug haben. Ja und dann konnte ich allmählich das Salzwasser riechen und zack schon war ich am Meer. Irgendwie wirkte das Ganze surreal und ich konnte es im ersten Augenblick gar nicht richtig einordnen. Erst als ich mir die Zeit nahm, nachdem ich im Hotel eingecheckt bin, um am Strand zu verweilen, wurde mir bewusst wie unglaublich lehrreich diese 9 Tage waren, wieviel ich erlebt habe und wie gross meine Lust ist, die ganze Welt zu entdecken. Ich schaute Richtung Horizont über das Meer hinaus und realisierte, dass mein Inneres genauso unendlich ist, dass meine Gedanken genau so ruhig waren, wie die stillen Wellen des Meeres und, dass ich in jedem Moment so frei sein kann wie die Möwen am Himmel.
Saintes-Maries-de-la-Mer
Super gschriebe! Finds guet wie du immer wieder spirituell, ökologisch und vom mindset her Bezüg zum Erlebte gmacht hesch! Sone Erfahrig wotti jetz no meh selber mal mache! LG Coelsen ;)
Mega schön! Konnte beim Lesen gleich ein wenig mit dir verreisen. Hoffe deinem Knie geht's besser!
bravo 👏👏 gratulation, super leistig hey 😋